Glauben, nicht mehr glauben zu können

Grenzgänge zwischen Theologie und Gegenwartsliteratur

Zur Schärfung des zeitdiagnostischen Sensoriums bietet sich für die systematische Theologie das Gespräch mit der Gegenwartsliteratur an, in deren Medium sich die Komplexität heutiger Lebens- und Erfahrungswelten spiegelt. Vor allem die literarische Selbstverständigung im Blick auf Fragen wie Freundschaft, Liebe, Trauer, Schuld und Tod verdient systematischtheologisches Interesse, weil hier zumindest implizit die Sinnfrage ins Spiel kommt. Wenn nicht alles täuscht, spielt allerdings in der Gegenwartsliteratur der Rückgriff auf den tradierten Glauben kaum eine Rolle. Man glaubt, nicht mehr glauben zu können, ja aus Gründen der intellektuellen Redlichkeit nicht mehr glauben zu dürfen. Nicht nur wird ‚Gott' formal als „schlechtes Stilprinzip" (Gottfried Benn) betrachtet, auch scheinen die Einwände der Religionskritik, der Protest gegen Gott im Namen des Unrechts etc. so selbstverständlich geworden zu sein, dass es kaum mehr lohnt, sie eigens ins Wort zu bringen. Die literarische Produktion der Gegenwart erweckt jedenfalls weithin den Eindruck, als ob ‚Gott' als Referenzgröße menschlicher Selbstvergewisserung ausgedient habe. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich seit einiger Zeit nachdenkliche Stimmen mehren, welche auf die Verluste aufmerksam machen, die mit dem Nichtmehrglaubenkönnen verbunden sind (oder sein können). Es gibt offensichtlich Leerstellen, die sich auftun, wenn Gott als potentieller Adressat menschlicher Selbstverständigung wegbricht. An exemplarischen Autorinnen und Autoren der Gegenwartsliteratur (Ulla Berkéwicz, Judith Hermann; Daniel Kehlmann, Pascal Mercier etc.) soll die Fragestellung interdisziplinär verfolgt werden.

Vorarbeiten

  • Die Zeit widerrufen oder: Vermächtnis einer Freundschaft. Zu Thomas Bernhards „Wittgensteins Neffe", in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 36 (2007), S. 282-292
  • Rebellion gegen Gott. Glauben nicht mehr glauben zu können. Anmerkungen zu Pascal Merciers „Nachtzug nach Lissabon", in: Magnus Striet (Hg.), Wiederkehr des Atheismus.  Fluch oder Segen für die Theologie (Theologie kontrovers), Freiburg: Herder 2008, S. 119-138
  • „Setz deine Fahne auf Halbmast". Zur synoptischen Verdichtung der Leidens- und Widerstandsgeschichte in Paul Celans Gedicht „In eins", in: Alfred Bodenheimer / Bettina von Jagow / Georg Pfleiderer (Hg.), Literatur im Religionswandel der Moderne. Studien zur christlichen und jüdischen Literaturgeschichte, Zürich: TVZ 2009, S. 221-245
  • Sterben - Weiterleben - Zurückbleiben. Versuch über Judith Hermanns „Alice", in: Stimmen der Zeit 228 (2010), S. 266-278